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Viktor Orbáns Interview in der Wochenzeitung „Mandiner”

3. März 2022

Wenn es für Krisenbewältigung ein Diplom gäbe, dann besäßen wir, Ungarn bereits vier-fünf – sagte der Ministerpräsident unserem Blatt auf dem Höhepunkt der russisch-ukrainischen Krise. Wir sprachen mit Viktor Orbán über sein Verhältnis zu Präsident Putin, die ungarischen geopolitischen Interessen, die Wahlen am 3. April und die Doktrin der liberalen Demokratie im Bibliothekssaal des Karmeliterklosters.

Gergő Kereki, Zoltán Szalai: Sie sind gerade jetzt von der ungarisch-ukrainischen Grenze nach Budapest  zurückgekommen. Unser Nachbar, die Ukraine, steht im Krieg mit Russland. Aus dem Sessel des ungarischen Ministerpräsidenten betrachtet: Wie sind wir an diesen Punkt angelangt?

Woraus der Krieg geworden ist? Wir befinden uns im Kreuzfeuer großer geopolitischer Akteure, die NATO hat sich kontinuierlich Richtung Osten erweitert, und dies gefiel Russland immer weniger. Die Russen sind mit zwei Forderungen aufgetreten: Die Ukraine solle ihre Neutralität deklarieren, und die NATO, dass sie die Ukraine nicht aufnehmen wird. Diese Sicherheitsgarantien haben die Russen nicht erhalten, deshalb haben sie sich dafür entschieden, diese im Krieg zu erlangen. Dies ist die geopolitische Bedeutung dieses Krieges. Die Russen Formen die Sicherheitslandkarte des Kontinents um. Ihre sicherheitspolitische Vorstellung ist die, dass Russland von einer neutralen Zone umgeben sein muss, damit sie sich in Sicherheit fühlen können. Die bisher als Zwischenzone angesehene Ukraine, die es ihnen nicht gelungen ist, mit diplomatischen Mitteln zu neutralisieren, wollen sie jetzt mit militärischer Kraft dazu machen. Zugleich muss Ungarn deutlich machen, dass der Krieg im Interesse keines einzigen Zieles akzeptierbar ist, und wer diesen Weg wählt, den verurteilt Ungarn eindeutig.

Péter Szijjártó hat Lawrow und die ukrainische Führung nach Budapest gerufen. Das Ziel ist, dass die Friedensverhandlungen beginnen können. Besitzt der Friede Realität?

Er tut es. Die Russen fordern das gleiche wie bisher. Da die Überlegenheit der militärischen Kräfte auf der Seite der Russen ist, war es nur eine Frage der Zeit, dass die Verhandlungen begannen. Ungarn ist auf der Seite des Friedens, unser Interesse ist es, von dem Krieg ausgenommen zu bleiben, sowie dass die Parteien möglichst schnell zu einer Übereinkunft gelangen und es Frieden gibt, wir dürfen auf keinen Fall in diesen Konflikt hineinrutschen. Wir verurteilen den russischen Angriff, da sie einen Krieg gegen die Ukraine gestartet haben. Man muss sich so schnell wie möglich an den Verhandlungstisch zurücksetzen, deshalb haben wir angeboten, dass die Friedensverhandlungen in Budapest beginnen sollen. Doch das Wesentliche ist, dass sie beginnen. Jetzt müsste ganz Europa am Frieden arbeiten.

Seit Ihrer Wahl standen Sie in einem regelmäßigen Arbeitsverhältnis zu Putin. Als was für einen Menschen, als was für einen Verhandlungspartner haben Sie den russischen Präsidenten kennengelernt?

In Vorbereitung auf den Wahlsieg hatte ich bereits 2009 den Kontakt mit Präsident Putin und den chinesischen führenden Politikern aufgenommen. Ich dachte mir, wenn wir an die Regierung kommen, müssen wir jenen weltpolitischen Realitäten ins Auge blicken, die nach der Finanzkrise von 2008 eingetreten sind. Ich hatte damit gerechnet, dass die Finanzkrise die westliche Welt, am meisten die Europäische Union erschüttern würde, die Chinesen jedoch nicht, so dass sich auf diese Weise der Prozess verschnellert, in dessen Verlauf China die führende Rolle in der Weltwirtschaft übernimmt. Auf diese neue Weltordnung muss sich Ungarn vorbereiten. Nach dem Wahlsieg 2010 konnten wir bereits aus einer partnerschaftlichen Beziehung heraus die Verhandlungen zwischen den jeweiligen Regierungen mit den Chinesen und den Russen aufnehmen. Und was den russischen Präsidenten angeht, worüber ich bisher mit ihm übereingekommen bin, das hat er immer eingehalten, und wir haben es ebenso getan. Die ungarisch-russischen Beziehungen waren bis in die allerletzte Zeit ein ausgewogenes, korrektes System von Beziehungen.

Die EU hat Sanktionen gegen Russland eingeführt. Für diese hat auch Ungarn gestimmt. Wie werden die ungarisch-russischen bilateralen Beziehungen durch die russische Invasion beeinflusst? Werden die Ereignisse eine Wirkung auf das Genehmigungsverfahren der Investition von Paks 2 und auf den langfristig mit den Russen abgeschlossenen Gasvertrag haben?

Mit dem Auslösen des Krieges ist auch für Ungarn eine neue Situation entstanden. In dieser neuen Situation müssen die Ziele Ungarns und die ungarischen Interessen erneut festgelegt werden. Was die Sanktionen angeht, haben wir kein Veto eingelegt, wir hindern die EU nicht daran, Sanktionen gegenüber Russland anzuwenden. Jetzt ist die Einheit der EU am wichtigsten. Was die bilateralen Beziehungen nach dem Krieg angeht, so ist eines sicher, Russland wird auch nach dem Krieg existieren. Ungarn und die Europäische Union werden auch nach dem Krieg Interessen besitzen. Keinerlei Argument spricht dafür, dass wir unsere energetische Zusammenarbeit mit den Russen einstellen sollten. Auch die führenden Politiker der EU haben klargestellt, dass die Sanktionen nicht die aus Russland kommenden Gaslieferungen berühren würden, denn dies würde die europäische Wirtschaft ruinieren. Auch mit der Investition in Paks ist dies die Situation. Wenn es kein Paks gibt, dann muss noch mehr russisches Gas und noch teurer gekauft werden. Wenn wir die energetische Zusammenarbeit mit den Russen beenden würden, würden die Nebenkosten aller ungarischer Familien im Laufe eines einzigen Monats auf das Dreifache anwachsen. Diesen Schritt unterstütze ich aus diesem Grund nicht, nicht die ungarischen Familien sollen den Preis des Krieges zahlen.

Der Ministerpräsidentschaftskandidat der Linken hat bereits zur Sprache gebracht, er würde auch, falls nötig, ungarische Soldaten und Waffen in die Ukraine schicken. Was ist Ihre Meinung darüber?

Die internationale Politik ist ein schwieriges Genre. Ich übe dieses Metier seit mehr als dreißig Jahren aus, dies ist mein dritter Krieg. Der dritte Krieg, der unter meiner Regierung in unserer Nachbarschaft geführt wird. 1999, einen Tag nach unserem Beitritt, hat die NATO in den Kosovokrieg eingegriffen. 2014 die Krimkrise, und jetzt kommt mir der zweite ukrainisch-russische Krieg entgegen. Der Vorteil von Regierungserfahrung ist, dass ich weiß, was strategische Ruhe bedeutet: Wenig reden, wenn, dann aber genau, verantwortungsbewusst. In solchen Momenten ist es nicht zulässig, dass sich die Gesichtspunkte des Wahlkampfes vor die nationalen Interessen schieben. Selbst mit einem einzigen falschen Satz kann man Probleme verursachen. In einer Kriegssituation ist das Reden schon ein halbes Handeln. Die Opposition will Waffen schicken, mit denen dann auf die Russen geschossen wird, oder Soldaten, die dann gegen die Russen kämpfen werden. Dies beweist, dass sie keine Routine, kein Wissen besitzen, und es mangelt ihnen an Verantwortungsbewusstsein. Mit ihren verantwortungslosen Äußerungen gießen sie nur Öl ins Feuer, und das ist den Interessen Ungarns entgegengesetzt. Statt einer Abenteurerpolitik ist verantwortungsvolles Politisieren, Sicherheit und Stabilität notwendig.

Womit helfen wir der Ukraine?

Wir helfen den Ukrainern gerne bei den Verhandlungen mit den Russen. Wir bieten selbst noch einen Ort für die Friedensverhandlungen. Darüber hinaus leisten wir den Ukrainern humanitäre Hilfe: Wir transportieren Benzin, Gasöl, Lebensmittel, Artikel der Grundversorgung dahin. Und drittens nehmen wir jeden auf, der aus der Ukraine kommt.

In den 1990-er Jahren schien es so, als ob die Vereinigten Staaten die einzige Weltmacht bleiben würden, die über einen tatsächlich globalen Einfluss verfügt, und es wird ihnen gelingen, Russland und China in die durch sie angeführte Weltordnung zu integrieren. Wie sehen Sie es angesichts der Entwicklungen der vergangenen zwei Jahrzehnte, hat es noch einen Sinn, über die monopolare, durch die Amerikaner dominierte Weltordnung zu sprechen? Wie bewerten Sie die bisherige Bilanz des amerikanisch-chinesischen Wettbewerbs?

Es erfolgt ein Positionswechsel an der Spitze der Welt. Aufgrund des heutigen Standes der Dinge wird bald China die stärkste Wirtschafts- und Militärmacht der Erde sein. Amerika ist dabei, zurückgedrängt zu werden, während China immer stärker wird. Ungarn mit seinen zehn Millionen Einwohnern muss in so einem Zeitraum geschickt manövrieren. Wir sind im Bündnis mit dem Westen, doch möchten wir auch mit der im Aufstieg begriffenen neuen Großmacht ein vorteilhaftes Verhältnis etablieren. Dies ist eine komplizierte, die Grenzen der Kunst streifende Aufgabe für die Macher der Politik.

Wie wird diese Veränderung die Frage der Souveränität betreffen?

Wir wissen bereits, wie die Welt ist, wenn es die angelsächsische Dominanz gibt. Doch wissen wir noch nicht, wie die Welt sein wird, wenn es eine chinesische Dominanz geben wird. Eines ist sicher: Die Angelsachsen beanspruchen es, dass die Welt ihren Standpunkt als moralisch richtig anerkenne. Für sie reicht es nicht, die Realität der Kraft zu akzeptieren, sie brauchen es, dass Du auch das akzeptierst, was sie für richtig halten. Die Chinesen haben keinen solchen Anspruch. Das wird auf jeden Fall eine große Veränderung in den kommenden Jahrzehnten.

Wir haben die deutschen Bundestagswahlen hinter uns, Angela Merkel verlässt die Bühne der deutschen und der europäischen Politik. Was denken Sie über die Bilanz der vergangenen sechzehn Jahre der Frau Bundeskanzlerin?

Zunächst einmal sollten wir feststellen, es ist nie eine leichte Aufgabe deutscher Bundeskanzler zu sein. Deutschland befindet sich in einem unnatürlichen Zustand, denn seine verschiedenen Körperteile entwickeln sich in einem Missverhältnis: Es besitzt einen riesigen Bizeps in der Wirtschaft, eine gut ausgebildete Muskulatur in der Kultur, aber schmale Waden in der Sicherheitspolitik, denn es verfügt über keine nennenswerte militärische Kraft, und es kann auch wegen des Zweiten Weltkriegs nicht mit der Ambition auftreten, welche haben zu wollen. Es lohnt sich also nicht, von Deutschland etwas zu erwarten, das es in seiner objektiven Lage nach dem Zweiten Weltkrieg nicht erfüllen kann. Die Beurteilung von Bundeskanzlerin Merkel wird in großem Maße dadurch beeinflusst werden, was hiernach in Deutschland folgen wird. Die Frage ist nämlich, im Vergleich zu was war die Ära Merkel gut oder schlecht. Im Vergleich zu dem, was wir uns gewünscht hätten, war sie nicht allzu erfreulich, doch im Vergleich zu dem, was jetzt mit der neuen linken deutschen Regierung folgen könnte, kann ihre Bilanz noch recht gut sein. Doch war sie es ja, die die Migranten hereingelassen hat, sie war es, die jenen Eckpfeiler der deutschen Familienpolitik aufgegeben hat, der das traditionelle Familienmodell verteidigte, aber sie war es auch, die Deutschland auf eine energetische Bahn geleitet hat, über die man nicht wissen kann, ob sie lebensfähig sein wird. Das sind drei wichtige strategische Fragen. Es ist die historische Entwicklung des gestrigen Tages, dass Deutschland in der Militär- und Sicherheitspolitik einen Paradigmenwechsel angekündigt hat. Sie haben sich entschieden: Deutschlands Wiederbewaffnung beginnt. Auch dies schafft eine neue Lage in Europa.

Als was für einen Menschen haben Sie Merkel kennengelernt?

Ich respektiere Sie, ich habe gerne mit ihr zusammengearbeitet. Auch dann noch, als es im Herbst 2015 zum Bruch zwischen uns kam. Dies belastet bis auf den heutigen Tag die deutsch-ungarischen Beziehungen sowie trägt stark dazu bei, dass wir auch in Brüssel unter Attacke stehen. Der Grund für den Bruch war unsere Migrationspolitik. Die Bundeskanzlerin hat mich eindeutig dazu aufgefordert, jene Migrationspolitik aufzugeben, die sich davor verschließt, die Migranten hereinzulassen, und ich sollte nicht die gemeinsame europäische Migrationspolitik blockieren, die die Migranten unter den Mitgliedsstaaten verteilen würde. Ich habe diese Forderung zurückgewiesen, dabei erinnert man sich daran, wie es ist, einen deutschen Stiefel auf der Brust zu haben. Es ist besser, so etwas zu vermeiden. Im Zusammenhang mit der Migration konnte man nichts anderes tun, als nur „Nein“ zu sagen. Obwohl ich wusste, dass wir deshalb über Jahre hinweg schwerwiegenden Angriffen ausgesetzt sein würden. Da sie ganz Europa zu einem Einwanderungskontinent machen wollen, und Ungarn der Stock zwischen den Speichen ist, deshalb wollen sie die gegenwärtige ungarische Regierung beseitigen. Auch bei den Wahlen im April dieses Jahres unternehmen die Brüsseler alles für den Erfolg der ungarischen Linken. Am 3. April müssen wir auch zu diesen Brüsseler Einmischungsversuchen „Nein“ sagen.

Der Ausgang der deutschen Wahlen ist bekannt: Die Linken, die Grünen und die Liberalen haben die Regierung gebildet. Wie können die Entwicklungen die deutsch-ungarischen bilateralen Beziehungen beeinflussen?

Das Programm der neuen deutschen Regierung lesend gibt es in uns viele Fragezeichen. Sie haben Deutschland zu einem Einwanderungsland erklärt, sie leugnen die Einteilung der Gesellschaft in ausschließlich Männer und Frauen, sie würden die leichten Drogen legalisieren, den Begriff der Nation aushöhlen, sie wollen ein föderatives Europa. Man weiß nicht, ob sie dieses Programm tatsächlich durchführen, wie auch nicht, ob sie dieses Programm auf ganz Europa auszuweiten versuchen. Wir möchten mit ihnen ein Toleranzabkommen im Interesse dessen schließen, damit wir unseren eigenen Weg in diesen Fragen beschreiten können. Sie müssen nicht so sein, wie wir es sind, aber wir sollten nicht so werden müssen, wie sie es sind.

In der konservativen Tageszeitung „Die Welt“ hat man bereits vor den Wahlen gewarnt: Mit dem Weggang von Angela Merkel könnten die südlichen Mitgliedsstaaten alle Schranken vor der Verschuldung der EU beseitigen. Was kann der Weggang von Merkel für Europa mit sich bringen? Besteht tatsächlich die Gefahr der Verschuldung der EU?

Die Staatsverschuldung einiger europäischer Länder übersteigt im Verhältnis zum GDP bei weitem die hundert Prozent. Wir sehen keine Wirtschaftspolitik, mit deren Hilfe man so hohe Schulden verschwinden lassen oder auf der Ebene der Mitgliedsstaaten langfristig ertragbar machen könnte. Eine Idee der verschuldeten Staaten ist es, ihre Staatsverschuldung auf europäischer Eben zu vergemeinschaften. Merkel hat dies immer zurückgewiesen, den Standpunkt der neuen deutschen Regierung kennen wir vorerst nicht. Es ist kein gutes Vorzeichen, dass der Präsident der deutschen Bundesbank sein Amt niedergelegt hat, denn auch er stimmte in der Frage der Verschuldung mit Merkel überein. Aufgrund unserer historischen Erfahrungen ist die Furcht begründet, dass die europäische Linke die EU in eine Schuldenfalle führen würde. Wie es auch schon Margaret Thatcher gesagt hat: Das Problem mit den Sozialisten ist, dass ihnen früher oder später das Geld der anderen ausgeht. Doch haben wir auch ein anderes Problem: Mit dem Ausbruch des russisch-ukrainischen Krieges ist es eindeutig geworden, dass die europäische Militär- und Sicherheitspolitik auf eine neue Grundlage gesetzt werden muss. Europa benötigt eine eigene Armee, eine ernsthafte militärische Industrie. Wir können uns nicht ausschließlich auf die Amerikaner stützen. Diese Herausforderung bedeutet viel größere militärische Ausgaben. D.h. während wir versuchen, das Haushaltsdefizit und die Staatsverschuldung zu senken, müssen wir auf dem Gebiet der Militärpolitik eine Ausnahme machen. Wir müssen viel Geld für die Rüstungsindustrie aufwenden, wir müssen die ausgebliebenen Investitionen der vergangenen Jahrzehnte nachholen. Der ungarische Standpunkt unterstützt die strenge Haushaltspolitik, wir brauchen die Maastricht-Kriterien, doch sollten wir die sicherheitspolitischen Ausgaben nicht zu dem gemeinsam beschlossenen Maß des Haushaltsdefizits hinzurechnen.

In welchem Verhältnis stünde die Armee der Europäischen Union zur NATO, zu den Heeren der Mitgliedsstaaten, wer würde sie finanzieren und wer würde sie leiten?

Die NATO ist ein großer Wert, man muss sie beibehalten, außerhalb von ihr hat es keinen Sinn, eine Armee aufzubauen. Zugleich sind der europäische und der amerikanische Flügel des Bündnisses nicht im Gleichgewicht miteinander. Die Amerikaner legen viel mehr hinein als wir. Dies muss geändert werden, man muss erreichen, dass wir in der Lage sind, das amerikanische Bündnis aufrechterhaltend die Sicherheit Europas auch aus eigener Kraft zu garantieren. Heute besteht unter den führenden europäischen Politikern hierzu kein politischer Wille, sie wollen nicht einen Teil ihrer Wirtschaftskraft für militärische Ausgaben aufwenden. Sehen wir es ein, es war in den vergangenen drei-vier Jahrzehnten eine bequeme Sache, im Vergleich zu den Amerikanern viel weniger für die Sicherheit auszugeben, denn so blieb ja für andere Ziele mehr Geld. Das war die europäische Strategie. Und die amerikanische Strategie baute darauf auf, dass wenn Du Deine Militärpolitik gut organisierst, dann haben die militärischen Investitionen, Entwicklungen eine wirtschaftliche Entwicklung zum Ergebnis, sie können in die zivile Wirtschaft hinübergelangen, wenn ein Kreislauf zwischen der Rüstungsindustrie und anderen Segmenten der Wirtschaft entsteht, dann bedeutet dies letztendlich einen wirtschaftlichen und technologischen Fortschritt für alle. In Amerika funktioniert das gut, dort werden längerfristig auch aus den militärischen Ausgaben eher wirtschaftliche Ausgaben und nicht bloß militärpolitische. Bedenken Sie nur, das Handy, das GPS und das Internet sind auch militärische Entwicklungen und bringen auch in der Zivilwirtschaft einen ernsthaften Nutzen. Europa ist ein technologisch entwickelter Kontinent, wenn es eine gemeinsame europäische Konzeption der Verteidigungsindustrie gäbe, könnten auch wir diesen Kreislaufeffekt hervorbringen. Ungarn würde gerne an so einer Initiative teilnehmen. Ich habe mit Präsident Macron und anderen führenden mitteleuropäischen Politikern bereits über die Frage Unterredungen geführt, soweit ich das sehe, könnte eine französisch-mitteleuropäische militärpolitische Kooperation entstehen. Der russisch-ukrainische Krieg könnte die Betroffenen noch umso mehr in diese Richtung drängen.

Welche Auswirkungen kann der russisch-ukrainische Krieg auf die Zusammenarbeit der V4 haben? Teilt die Russenfrage die Visegráder?

Die Zusammenarbeit der V4 haben wir bisher von den militärpolitischen Themen getrennt, da wir wussten, es gibt Meinungsunterschiede zwischen uns. Jetzt, da die Russen die Ukraine angegriffen haben, können wir dieses Thema nicht mehr fernhalten, denn dies ist die wichtigste Frage. Wir wollen die Russen von uns fernhalten, doch gibt es bedeutende taktische Unterschiede zwischen uns. Die Polen wollen die Grenze der westlichen Welt bis an die Grenze der russischen Welt hochschieben. Sie fühlen sich dann in Sicherheit, wenn dies umgesetzt wird, und die NATO – auch Polen mit inbegriffen – in der Lage ist, eine entsprechende Streitkraft auf der westlichen Seite dieser Grenzlinie aufmarschieren zu lassen. Auch deshalb unterstützen sie vehement die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Das Wesentliche des ungarischen taktischen Denkens ist aber, dass es zwischen den Russen und den Ungarn ein ausreichend breites und tiefes Gebiet geben soll. Heute heißt dieses Gebiet Ukraine. Dieser geopolitische Unterschied ist dann nicht wichtig, wenn man sich mit Brüssel in der Angelegenheit der Nebenkosten auseinandersetzen oder in der Genderfrage kämpfen oder sich gerade gegen die Migration schützen muss, jetzt aber hat die Bedeutung dessen zugenommen, denn es gibt Krieg. Das Wesentliche ist, dass auch die Polen wissen, sie können auf die Ungarn zählen, und wir wissen, dass wir auf die Polen zählen können.

Sie sprechen oft über den Aufstieg der V4. Worin sehen Sie die Spuren der Stärkung?

In den Tatsachen. Als wir zu Beginn begannen, die Zusammenarbeit der V4 zu intensivieren, war unser Handelsverkehr mit Deutschland durchschnittlich. Dann kam der Moment, in dem der Handelsverkehr der V4 mit den Deutschen das deutsch-französische Niveau erreichte, später sind wir an den Punkt angekommen, dass der Handelsumfang zwischen den V4 und den Deutschen bereits doppelt so groß wurde wie der deutsch-französische, und jetzt befinden wir uns schon darüber. Ich sehe, wie sich die Wirtschaftskraft der V4 aufbaut. Heute geht es nicht mehr nur darum, dass die mitteleuropäischen Wirtschaften nicht ohne die deutsche Wirtschaft funktionieren können, sondern auch darum, dass die deutsche Wirtschaft nicht ohne Mitteleuropa funktioniert. Das hat ein vollkommen neues Verhältnis zum Ergebnis: Es ermöglicht ausgeglichenere Beziehungen.

Ungarn ist ein großer Unterstützer der euroatlantischen Integration des Balkan. Was ist die Realität dieser Politik?

In Westeuropa ist der Gedanke stark, der am liebsten die bisherigen Erweiterungen ungeschehen machen würde. Sie deuten gerne die Schwächung der westeuropäischen Mittelklasse, die Verschuldung, die Tatsache der wirtschaftlichen Wettbewerbsunfähigkeit als etwas, das wir, Mitteleuropäer, über sie gebracht hätten, indem sie die EU erweitert haben. So ziehen sich viele vor jeder weiteren Erweiterung instinktiv zurück, denn sie sind der Ansicht, diese würde ihre Lage weiter erschweren. Dies nennen sie natürlich elegant nur „fatigue“, „Erweiterungsmüdigkeit“, so muss man nicht zugeben, dass ihre Position moralisch nur schwer aufrechtzuerhalten ist und sie auf der falschen Seite der Geschichte stehen.

Warum ist für unser Land die EU-Mitgliedschaft von Serbien und Mazedonien so wichtig?

Sie ist sowohl aus sicherheitspolitischen Gründen als auch aus jenen des Handels wichtig. Der russisch-ukrainische Krieg macht es evident, dass kein Schwarzes Loch in der Sicherheit, kein Vakuum auf dem Balkan bleiben darf. Wir argumentieren bereits seit langem damit, dass es zwischen Griechenland und Ungarn kein Gebiet geben darf, das im geopolitischen Sinn verwahrlost, außerhalb der Europäischen Union, und Spielplatz der amerikanischen, europäischen, russischen und türkischen Interessen ist. Der jetzige Krieg bestärkt diese Argumentation nur. Hinzu kommt noch, dass es bereits NATO-Mitgliedsstaaten in der Balkanregion gibt. Es ist an der Zeit, dass die Europäische Union zur NATO aufschließt, wir müssen diese gesamte Region in die westliche Welt integrieren, sowohl im militärpolitischen als auch im wirtschaftlichen Sinn. Der Beitritt des Balkan ist auch unser Handelsinteresse, die Region könnte für uns ein wirtschaftliches Hinterland sein, wir könnten miteinander finanziell auch Vorteile haben.

Innenpolitik: Rückerstattung der Steuer an Familien, Verlängerung des Kreditmoratoriums, Befreiung der unter 25jährigen von der Einkommenssteuer, Rentenprämie, 13. Monatsrente, Minimallohn von 200 tausend Forint. Die Opposition hält diese Schritte für Wahlkampfgeschenke. Inwieweit sind diese Maßnahmen in einer größeren zeitlichen Perspektive aufrechtzuerhalten?

Diese Maßnahmen sind nicht ohne Vorspiel. Den Teil der ersten Woche der 13. Monatsrente haben wir bereits im vergangenen Jahr zurückgegeben, für die Familien geben wir seit 2010 Ermäßigungen, die an die Arbeit geknüpft sind. Auch die Steuersenkung ist die Politik der vergangenen zwölf Jahre, wir haben jetzt wegen des 7-prozentigen Wachstums nicht nur gesenkt, sondern haben die im vergangenen Jahr durch die Familien eingezahlte Steuer auch ihnen zurückgegeben, denn die Epidemie hat gerade sie am empfindlichsten berührt. Diese Maßnahmen stehen nicht im Zusammenhang damit, dass es Wahlen geben wird, und sie stellen auch keinen Richtungswechsel im Vergleich zu dem dar, was wir bisher vertreten haben. Politische Stabilität, finanzielle Stabilität, eine transparente, durchschaubare Wirtschaftspolitik, deren Ziel zugegebenermaßen die auf die Verknüpfung von Arbeit und Familie aufbauende demografische Politik ist. Das ist unsere Linie, diese wollen wir auch gar nicht verlassen.

Was ist der Plan für die kommenden Jahre?

Unsere Politik mit demografischem Fokus wird durch eine Sicherheitspolitik höherer Ebene ergänzt. Wegen des russisch-ukrainischen Krieges kann man die Militärpolitik nicht so fortsetzen, wie wir sie bisher gemacht haben. Dies bedeutet auch eine finanzielle Stärkung. Wir müssen die Versäumnisse vieler Jahre nachholen, denn bei uns hat die Linke bis 2010 die Armee auf den Boden geschickt. Ihr Verhältnis zur Verteidigung der Heimat hat sich auch seitdem nicht verändert, einer der Waffenträger von Gyurcsány attackiert zum Beispiel die Entwicklung der Streitkräfte mit dem Argument, die Armee sei das neue Stadion. Stellen Sie sich vor, wie wir in der gegenwärtigen Situation dastünden, wenn sie an der Regierung wären. Für uns steht aber die Sicherheit Ungarns an erster Stelle, und wir wissen genau, dass in der Zeit der Völkerwanderungen, der Epidemien und der Kriege nur eine starke Armee in der Lage ist, die Sicherheit der Ungarn zu verteidigen. Im nächsten Jahrzehnt wird es um die Sicherheit gehen.

In welche Richtung wollen Sie im Bereich der Unterstützung der Familien weiterschreiten?

Wir haben die Familienpolitik mosaikartig zusammengefügt, so wie die Wirtschaft des Landes stärker wurde, haben wir immer neuere und neuere Elemente eingeführt, aber es gibt noch fehlende Bausteine. In den kommenden Jahren werden wir unsere Familienpolitik vervollständigen. Auch hier müssen wir vorwärtsgehen, nicht zurück.

Welche Schritte planen Sie konkret?

Das endgültige Ziel ist, dass wenn Du Kinder erziehst, dann soll Dich das in eine wirtschaftlich vorteilhaftere Situation bringen, als wenn Du Dich nicht auf Kinder eingelassen hättest. Heute ist selbst bei allen Unterstützungen für die Familien das Leben derer, die es ohne Kinder planen, im Alter von 45 Jahren wirtschaftlich, kurzfristig auf jeden Fall leichter, als wenn sie zwei oder drei Kinder erziehen würden. Dies bedeutet, dass das Maß der Unterstützung durch die bereits vorhandenen Elemente gesteigert werden muss. Zum Beispiel haben wir die Steuerbefreiung der unter 25jährigen von der Einkommenssteuer eingeführt, doch kann dies nach dem Erreichen des 25. Lebensjahres eine Abnahme des Lohnes zum Ergebnis haben, denn mit dem Erreichen des 25. Lebensjahres kommt man aus der bis dahin geltenden Kategorie der Steuerbefreiung in jene des Steuerzahlens. Für jene, die eine Familie gründen, ist hier ein überführender Abschnitt notwendig. Doch müssen wir auch darauf achten, dass die Befreiung von der Einkommenssteuer unter 25 Jahren viele Menschen in die Richtung führen könnte, bis zum Alter von 25 Jahren lieber zu arbeiten, statt eine Familie zu gründen, denn so kann man viel Geld sparen. Man muss also im Alter von 25 Jahren einen starken Impuls erhalten, um die Verschiebung des Kinderkriegens nachzuholen. Ernsthafte Stäbe von Fachleuten arbeiten daran, und nach den Wahlen werden wir die fehlenden Mosaiksteine in das System einfügen.

Es hängt auch mit der Familienpolitik zusammen, dass die Regierung beschlossen hat, eine Volksabstimmung in vier Fragen des Kinderschutzes auszuschreiben. Warum ist diese Volksabstimmung notwendig?

Ich hätte nie gedacht, dass wir an diesen Punkt ankommen werden. Wenn mir jemand vor einigen Jahren gesagt hätte, ich würde einmal vorschlagen, wir sollten in die Verfassung hineinschreiben, dass der Vater ein Mann, die Mutter eine Frau ist, hätte ich ihn sicher belächelt. Die Verfassung ist nicht dazu da, damit wir biologische Selbstverständlichkeiten in sie hineinschreiben – hätte ich gesagt. Und jetzt bin ich es, der das initiiert hat. Da können wir sehen, wie schnell sich auch als stabil angenommene gesellschaftliche Ansichten verändern, wenn die politischen und wirtschaftlichen Akteure organisierte Aktionen starten. Wenn wir uns nicht rechtzeitig mit diesen Themen beschäftigen, wird es uns so ergehen, wenn wir wieder erwachen, wie mit der liberalen Demokratie: Wir werden ausgetrickst sein. Wenn wir still bleiben, abwinken, entsteht ein gesellschaftliches Klima, in dem bereits wir jene sein werden, die man dann seltsam betrachtet. Es kann eine Situation entstehen, in der wir, die wir die traditionelle Institution der Familie verteidigen, als die Gegner der Freiheit hingestellt werden. Wir dürfen nicht an diesen Punkt gelangen. Man muss rechtzeitig mit der Verteidigung beginnen. Die Anhänger der offenen Gesellschaft attackieren die Nation und die Familie, und schwächen dann mit Hilfe der massenweisen Migration unsere Identität. Und jetzt wollen sie unsere Kinder verunsichern. Dies dürfen wir nicht zulassen! Ungarn ist ein freies Land, als Erwachsener lebt ein jeder so, wie er will. Doch unsere Kinder müssen wir vor der Genderpropaganda schützen, dafür ist die Volksabstimmung das beste Mittel.

Es wird Parlamentswahlen am 3. April geben. Der Ministerpräsidentschaftskandidat der Linken ist Péter Márki-Zay geworden, Sie haben aber in Ihrer Rede zur Lage der Nation in erster Linie die Rückkehr von Gyurcsány und Bajnai beschrieben. Ist dies nach zwölf Jahren konservativer Regierung für Ungarn eine tatsächliche Gefahr?

Die Kommunisten sind zäh. Es ist schmerzhaft, dass wir zweiunddreißig Jahre nach dem Systemwechsel eine Parlamentswahl immer noch als eine über Sein oder Nichtsein betrachten. Im Normalfall müsste es bei einer Wahl nur um die Frage der guten Regierung gehen, wir betrachten sie aber trotzdem als eine nationale Existenzfrage, denn es besteht die Gefahr, dass eine weitere Generation der Kommunisten zurückkommt. Ich hege größere Hoffnungen im Zusammenhang mit den Wahlen als nur den Sieg allein. Ich hoffe, dass die Kommunisten die vierte Niederlage nicht mehr überleben werden. Wenn wir das vierte Mal gewinnen können, erwischen wir mehrere Fliegen auf einen Schlag. Einerseits wenden wir die unmittelbaren sozialen und wirtschaftlichen Gefahren, die der Rückkehr der Gyurcsány-Bajnai-Ära entspringen, ab, können unsere Arbeit fortsetzen, gehen nach vorne und nicht zurück. Andererseits können wir mit einem weiteren Sieg die radikale Umwandlung der Opposition erzwingen, und damit könnte ein neues Kapitel in der ungarischen Innenpolitik beginnen. Wenn also jemand eine wirkliche Veränderung in der ungarischen Innenpolitik haben möchte, so muss er jetzt nicht die Regierung ablösen, sondern die Opposition umformen. Das bringt eine wirkliche Veränderung. Dazu sind nur die Wähler in der Lage.

Ist der endgültige Sieg möglich? Hinter der ungarischen Opposition sieht der Fidesz in der Regel ein internationales Hinterland. Wenn es ein solches tatsächlich gibt, dann werden sie es wohl kaum zulassen, dass eine sich von ihrer Denkweise von Grund auf unterscheidende, neue Oppositionspolitik erscheint.

Es gibt auch sicher ungarische Patrioten, die nicht mit unserer Regierung einverstanden sind, solche, die uns auf nationaler Grundlage kritisieren wollen, und die eine nicht durch George Soros und Brüssel finanzierte Opposition organisieren können. Sie stehen derzeit nicht auf der Liste der Linken, doch ich erwarte es schon sehr, dass wir endlich mit ihnen auf nationaler Grundlage diskutieren müssen.

Geht es auch um Internationales bei diesen Wahlen?

Man darf unsere eigene Bedeutung nicht überschätzen. Damit es in Europa eine konservative Wende gibt, ist unser Sieg zu wenig. Solange nicht mindestens eines der Gründungsländer den gleichen Weg betritt wie wir, wird sich die konservative, christdemokratische Anschauung im Gegenwind befinden. Solange werden sie das geistig und strategisch begründete Gegenüberstehen von Links und Rechts so hinstellen, als ob dies lediglich die Debatte der neu beitretenden, von der westlichen Entwicklung ausgeschlossen gebliebenen, noch immer rückständigen östlichen Mitgliedsstaaten mit den Westlern wäre. Dieses Narrativ kann man dadurch zerschneiden, indem das erste Gründungsland auf unsere Seite hinüberwechselt. Als gute Helden in einer Grenzfestung können wir lange durchhalten, doch wird daraus erst dann ein wirklicher Sieg, wenn wir Gefährten finden.

Wenn Sie auf die vergangenen zwölf Jahre Ihrer Regierung zurückblicken, was war die größte Herausforderung?

Die schwierigsten Momente bedeuteten immer die Krisen. Wenn wir auf unsere Regierung zurückblicken, so hat es hier seit 2010 schon alles gegeben: Finanzkrise, Rotschlamm, Hochwasser, Krimkrieg, Migrationskrise, Coronavirus, russisch-ukrainischer Krieg. Das sind unsere vergangenen zwölf Jahre. Wenn es für Krisenbewältigung ein Diplom gäbe, dann besäßen wir, Ungarn bereits vier-fünf. Wir leben in der Zeit der Gefahren, der Zeitraum des friedlichen Schaffens ist uns noch nicht gegeben. In der Zwischenzeit haben wir zwar ein gutes System zur Unterstützung der Familien errichtet, haben die Wirtschaft auf die Beine gestellt, doch das ist nur die Sahne auf dem Kuchen, denn den Großteil der Energien hat die Abwendung der Krisen verbraucht.

Es gibt einen Konsens unter den Analysten darüber, dass die vergangenen zwölf Jahre als „Orbánära“ in die Geschichtsbücher Eingang finden werden. Früher haben Sie Ihre Politik mit dem Attribut „illiberal“ belegt, doch haben Sie auch über die christliche Freiheit gesprochen, und neuerdings gebrauchen Sie das Wort von der konservativen Renaissance. Wenn man die vergangenen zwölf Jahre ideologisch abdecken müsste, welchen Ausdruck würden Sie dann benutzen?

Dieses bunte sprachliche Instrumentarium ist kein Zufall. Leute wie wir haben die sprachlichen Kriege zu Beginn der 1990-er Jahre verloren, und seitdem finden wir nicht nur unsere Positionen nicht, sondern auch nicht unsere Sprache. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts hatten es die europäischen Demokraten richtig identifiziert, dass der gemeinsame Feind der Faschismus und der Kommunismus waren. So haben die beiden, im Übrigen miteinander im Wettstreit liegenden Richtungen der Demokraten, die Liberalen und die Konservativen sich gegenüber den gemeinsamen Feinden, den Faschisten und den Kommunisten verbündet. Sie haben die zwischen ihnen bestehenden geistigen Unterschiede beiseitegeschoben und wir haben mit vereinten Kräften gegen die totalitären Ideen gekämpft. 1990 haben wir aber gewonnen. Die Liberalen sind früher aufgewacht, sie haben erkannt, dass da der gemeinsame Feind niedergestreckt worden ist, wird die alte, auf Wettbewerb basierende Ordnung sich wiederherstellen: auf der einen Seite die Liberalen, auf der anderen die konservativen Christdemokraten. Um einen Wettbewerbsvorteil zu erlangen, haben sie ihre Doktrin formuliert, nach der die Demokratie nur liberal sein könne. Die konservative Seite bewegt sich seitdem auf einer vorgegebenen Spur, denn da sie aus dem Takt gekommen ist, war die Doktrin von der liberalen Demokratie zur dominanten Anschauung geworden. Seitdem versuchen wir uns ein wettbewerbsfähiges Gegennarrativ auszudenken: Trump sagte, America First, ich rede über Illiberalismus, doch in Wirklichkeit suchen wir nur nach jenen Positionen, von denen aus man auf wettbewerbsfähige Weise die liberale Doktrin herausfordern kann.

Was für ein Problem haben Sie mit der Doktrin der liberalen Demokratie?

Das ist ein Trick. Die Demokratie ist ein selbständiger Begriff, er bedeutet die Herrschaft des Volkes. Man kann diesen Begriff ideologisch nicht enteignen. Aus einer Demokratie kann eine liberale Regierung, eine konservative, christdemokratische Regierung, ja auch eine sozialdemokratische Regierung erwachsen. Die Demokratie selbst wurde früher durch niemanden qualifiziert, denn die Demokratie ist ja die Basis, aus der die Regierungspolitiken mit ihren unterschiedlichen Weltanschauungen emporwachsen und dann miteinander im Wettbewerb stehen. Zum Beginn der 1990-er Jahren haben aber die Liberalen erkannt, dass die Demokratie selbst besetzt werden muss. Die Folgerung der Liberalen wurde, dass man nicht jene Diskussion für sich entscheiden müsse, wer auf demokratischer Grundlage eine bessere Politik machen könne, sondern man müsse die Demokratie selbst besetzen. Wir müssen jetzt aussprechen, dass nicht jede Demokratie liberal ist, und nur weil etwas nicht liberal ist, kann es noch eine Demokratie sein. Es ist schwer, dem Geltung zu verschaffen,  obwohl in der Zwischenzeit die Liberalen in eine Falle hineinspaziert sind.

An was für eine Falle denken Sie dabei?

Indem sie den Begriff der Demokratie weggenommen und den konservativen Christdemokraten ihren demokratischen Charakter in Frage gestellt hatten, haben sie die auf gegenseitiger Anerkennung basierende Beziehung aufgegeben. Das war ein großer Fehler ihrerseits, denn die Liberalen waren immer schon verletzlich seitens des Marxismus. Diese Verletzlichkeit haben sie lange Zeit dadurch ausbalanciert, dass sie akzeptable geistige Kontakte zu den Konservativen gepflegt haben. Doch nachdem die Liberalen sich von uns gelöst haben, sind sie allein mit den Marxisten geblieben. Und die Marxisten essen, saugen die Liberalen auf. Dies sehen wir in Amerika, aber der gleiche Prozess läuft auch in Europa ab. Dieser Prozess besitzt grundlegend geistige Ursachen. Wenn nämlich die Liberalen die ausschließlich auf der Freiheit ruhende Gleichheit in den Mittelpunkt stellen und aus ihrer Argumentation die Tradition ausschließen, werden sie in Richtung auf jene wehrlos, die immer und immer neue Fragen der Gleichheit aufwerfen. Es wird nichts mehr geben, was sie gegenüber diesen Fragen schützen würde. Zuerst kommt die Frage, ob die gleichgeschlechtliche Beziehung legalisierbar sei oder nicht. Später dann, ob wir sie als gleichrangig mit der Ehe zwischen Mann und Frau akzeptieren. Danach gelangen sie dann auch an den Punkt, warum diese Beziehung lediglich auf zwei Personen eingeschränkt werden müsse, denn es sind ja auch andere Kombinationen vorstellbar. Sie werden immer Menschen in der Gesellschaft finden, die vermutete oder tatsächliche Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse sind, und die als Medizin für ihre Probleme die Umformung des gesellschaftlichen Systems fordern. Die absurdesten Forderungen werden am linken Rand der Liberalen erscheinen, und diese werden systematisch, da wir von Rechts ihnen kein Gegengewicht in Form der Argumentation im Namen der Tradition entgegensetzen können, Schritt für Schritt in das politische Lager der Liberalen eindringen und sie besetzen dort das Zentrum. Und am Ende marxisieren sie das gesamte liberale Lager. Heute vollzieht sich dieser Prozess vor unseren Augen. Das ist die Falle der Liberalen. Das können wir auch woke nennen. Früher oder später müssen wir damit rechnen, dass gegenüber dem christdemokratischen Lager wir nicht mehr einer liberal gesinnten, sondern grundlegend marxistisch gesinnten und auch liberale Überreste beinhaltenden Gruppe gegenüberstehen werden. Das ist heute in Amerika die Situation. Die konservative Seite ist vorerst einen Schritt hinter dem marxistischen, liberalen Lager zurück, wir müssen den Handschuh in dieser Auseinandersetzung aufheben.

Allein Mandiner haben in der nahen Vergangenheit derart große konservative Namen ein Interview gegeben wie Rod Dreher, Yoram Hazony oder Niall Ferguson. Früher gab es kein derartiges Interesse für Ungarn, heute kommen sie dennoch hierher, forschen, intellektualisieren, sind offen für den ungarischen Konservativismus.

Die ungarische Luft macht frei. Und die Freiheit besitzt große Anziehungskraft. Sie haben an der eigenen Haut erlebt, dass sie zu Hause das nicht sagen können, was sie denken. Die westliche liberale, langsam marxistisch werdende Hegemonie toleriert höchstens, doch an einzelnen Orten toleriert sie nicht einmal die von ihr abweichenden Gedanken. In der westlichen universitären Welt ist diese Erscheinung recht stark, hierüber kann man auch in „Mandiner“ konkrete Beispiele lesen. Ich merke an, vor zehn Jahren hat auch Gáspár Miklós Tamás schon darüber geschrieben. Das Wesentliche ist, dass dort Hegemonie herrscht, in Ungarn jedoch Pluralismus. Die Hegemonie bedroht immer die Freiheit, besonders die geistige. Der Pluralismus aber eröffnet der Freiheit immer Raum, da er sich daran erfreut, dass wir miteinander schwierige Themen selbst von sehr unterschiedlichen Auffassungen ausgehend besprechen können. Und im Pluralismus erscheint dies schön und wir genießen dies auch. Die Hegemonie hält dies für eine Gefahr, verfolgt es und macht das Leben immer öder, immer grauer. So besitzt die Freiheit, die mit ihr einhergehende Vielfalt eine große Anziehungskraft. Und heute gibt es nur sehr wenige Länder, in denen die konservativen, die christdemokratischen Länder ihre Meinung derart frei, umgeben vom Interesse der jungen Generation mitteilen könnten, wie sie das in Ungarn tun. Ich könnte auch sagen, für die armen sind wir übriggeblieben.